Sonntag, 19. Juli 2015

Die Lage in Spanien im Sommer 2015

In Deutschland wird ja immer wieder berichtet, wie brav die Spanier gehorchen und sparen und wie schön es deshalb aufwärts geht. Aha, soso, hmhm. Tja. Hmhm. Die, die das schreiben, glauben das, oder? Ich meine, die erfinden nicht bewusst irgendwas, oder? Denn: seit Mariano Rajoy an der Macht ist, also in den letzten dreieinhalb Jahren, ist die Staatsverschuldung Spaniens um 300 Milliarden Euro gestiegen. Die megablühenden Landschaften, durch die wir jetzt vor den Wahlen stolpern dürfen, wurden mit 300 Milliarden neuen Schulden erkauft. 
Und leider, leider sieht die Lage vor Ort, zumindest in der spanischen Provinz, ganz, ganz anders aus als uns die offizielle Propaganda glauben machen will. Man beobachtet immer wieder schockierende - ja, doch, schockierende ist das Wort - Kleinigkeiten: Zum Beispiel war ich neulich abends mit meinen Freundinnen unterwegs und wir liefen eine tagsüber sehr belebte Straße entlang. Mir fiel auf, dass praktisch alle Läden geschlossen waren, also geschlossen im Sinne von aufgegeben und für immer zugesperrt. Ich dachte mir, sagst lieber nichts, sonst stehst du wieder als negativer Mensch da. Eine meiner positiven Freundinnen wies aber darauf hin: Der Geschenkeladen - zu. Der Handtaschenladen - zu. Die Bankfiliale - zu. Das Reisebüro - zu. Und was da noch alles ist und war - zum größten Teil zu. Und wenn ein neuer Laden aufmacht, muss man sich echt sputen, sonst ist er wieder zu. Ist mir mit einem Spielwarenladen passiert, der vor Weihnachten aufgemacht hatte. Letztens wollte ich mir endlich anschauen, was es so Neues an Kinderkram gibt (ein kleines Mädchen hatte festgestellt, dass ich nicht mal wusste, wer Peppa Pig/Peppa Wutz ist, und das ist ja wohl der Gipfel der Ignoranz), zu spät, der Laden war schon wieder verschwunden.
Mein Nachbar sagte mir heute: "Ich habe die Webseite angeschaut, die du mir empfohlen hast. Bei Gottes Liebe, ich kann es nicht glauben." Bei der Webseite, die er angeschaut hatte, handelte es sich um die spanische Immobilienseite www.idealista.com und was ihn geschockt hatte war die Anzahl der Häuser, die in unserer Siedlung zum Verkauf stehen. In unserer kleinen Straße, zum Beispiel, werden fünf Häuser (HWUs) offiziell zum Verkauf angeboten. Die Preise liegen zwischen 260.000 und 290.000 Euro. Zu Spitzenzeiten, nämlich so um 2006, 2007, wurden deutlich über 400.000 verlangt. Was wird gezahlt? Das weiß man nicht, es ist schon seit vielen Jahren (sechs, sieben Jahren?) keins mehr verkauft worden. Dann gibt es noch ein paar Anwohner, die gerne verkaufen würden und nur darauf warten, dass die Preise wieder steigen. Geht der ganze Irrsinn noch irgendjemand in den Kopf? Wer, um alles in der Welt, soll denn unsere Häuser kaufen? Die Jugendarbeitslosigkeit, also der Prozentsatz der Menschen zwischen 16 und 25, die arbeiten möchten, aber keine Arbeit finden, liegt bei über 50%. Dazu kommen noch die, die einfach irgendwas studieren und dann noch irgendwas, und dann noch einen Master und dann was anderes..., die in der Statistik nicht auftauchen, weil sie ja studieren. Und wenn sie dann doch irgendeine Arbeit finden, dann können sie nicht in ihrem Heimatort bleiben und verdienen auch nicht genug zum Leben. Nur Senioren haben genug Geld, um Häuser zu kaufen. Und Senioren wollen keine großen Häuser, die für junge Familien ideal sind, welche aber nicht das Geld haben, um sie zu bezahlen. 
Von den Griechen hört man, dass sie hohe Renten brauchen, weil alte Leute häufig junge Familien mit durchschleppen. Für die Deutschen klingt das fremd und unverständlich, für Spanier ist das real. Auch Studenten, welche die spanische, dem Bafög entsprechende Unterstützung erhalten, kommen häufig aus Familien, die das Bafög ihrer Kinder zum Überleben brauchen. In Spanien gab es im Frühjahr 2015 ganze 770.000 Haushalte ohne Einkommen. Diese Zahl habe ich gesucht, wer sehen will, wo ich sie gefunden habe, hier klicken. Ohne Einkommen bedeutet nicht Hartz 4 oder irgend sowas. Ohne Einkommen bedeutet ohne Einkommen. Wir können nur hoffen, dass die Mama schwarz putzt (was aber auch im Rahmen des guten Weges und der verschärften Gesetze immer schwieriger wird. Mittlerweile muss man Putzfrauen anmelden, auch wenn sie nur eine einzige Stunde in der Woche kommen. Nebeneffekt: Arbeitsmarktstatistik!). Ihr fragt Euch jetzt vielleicht, wie kann denn das sein? Wie darf man sich das vorstellen? Ohne jedes Einkommen? Ich hörte einmal eine Frau, bei der ich mir echt nicht erklären kann, wovon ihre Familie lebt, über andere Leute sagen: "Ich kann mir echt nicht erklären, wovon diese Familie lebt." Einkommen: Vaters Arbeitslosengeld für Langzeitarbeitslose mit Familie in Höhe von 426 Euro. Die Schwarzarbeit wird massiv bekämpft. Für den IWF ist das vielleicht toll, für arme Familien nicht so. 
Letzten Samstag war ich mit einer Freundin in Medina del Campo, der kastilischen Möbelstadt. Wir besuchten ein sehr großes Möbelhaus, das hauptsächlich klassische Modelle anbietet. Wir hielten uns an einem Samstagmorgen dort eine gute Stunde auf und in dieser ganzen Zeit waren wir die einzigen Kunden. Die Geschäftsleute scheinen aber die Dauerbeschallung mit positiver Propaganda zu verinnerlichen (neulich hat einer im Radio gesagt: "Ich möchte immer in einem Wahljahr leben, da ist alles so positiv", hahaha.). Im nächsten Geschäft, wo ich das Möbel für unseren Eingangsbereich in Auftrag gab und wo auch in der ganzen Zeit, in der ich dort war, keiner hereinkam, war so ein Propagandagläubiger: "Kaufen Sie rasch, die Hersteller warten nur darauf, die Preise wieder zu erhöhen, sobald es weiter aufwärts geht", sagte der Verkäufer und Ladenbesitzer in Personalunion. "Es geht nicht aufwärts, das hoffen Sie bloß", antwortete ich ihm. "Doch", sagte er. "Rajoy wird wiedergewählt und dann geht es richtig aufwärts." "Ich teile Ihre Meinung, dass Rajoy wiedergewählt wird, aber danach kommt eine Austeritätsorgie, dass uns Hören und Sehen vergehen wird", sagte ich. "Wir werden es ja sehen", sagte er. Meine Freundin war während dessen in einem anderen Möbelladen, in dem auch keine Sau war. Ich weiß aber, dass sie die Meinung des Möbelhändlers geteilt hätte, weil dies für ihre seelische Gesundheit wichtig ist.
Klar, es geht zurzeit ein bisschen aufwärts, weil die Banken die Kredithähne wieder geöffnet haben. Im Fernsehen machen mehrere Wucherer Reklame. Ich verstehe nicht, wie der Staat das erlauben kann. Vor ein paar Tagen habe ich einen Artikel gelesen, in dem stand, dass einer dieser Wucherer, der Wohnungen als Garantien nimmt, bereits 4000!!! Immobilien in seinen Besitz gebracht hat. Das ist wie damals, vor vier oder fünf Jahren, als Nueva Rumasa für ihre Anleihen mit 8 % Zinsen im Fernsehen Reklame machten. Die Leute, die dachten, na, wenn die im Fernsehen Reklame machen, wird das wohl rechtens sein, wurden um ihr Geld gebracht.
Ja, doch, es geht dank der scharfen Sparpolitik aufwärts, ich bestreite es ja gar nicht. Die Autokäufe sind stark gestiegen. Die L.s haben auch ihrem seit fünf Jahren arbeitslosen Sohn ein neues Auto gekauft. Für das laufende Jahr ist für Spanien ein Wirtschaftswachstum von 4 % vorhergesagt. Vielleicht konzentriere ich mich zu stark auf das Negative. Ist doch positiv: Familie L. hat einen Neuwagen gekauft. Im Möbelladen war am Samstagvormittag ein Kunde. Es gibt immer noch Leute, die versuchen, Läden aufzumachen. Von jemandem aus unserem Bekanntenkreis, der in letzter Zeit Arbeit gefunden hätte, kann ich leider nicht berichten, da es niemanden gibt, und Ihr wisst, dass ich mich echt bemühe, Euch die Wahrheit zu sagen, zumal ich es auch für mich selber aufschreibe, damit ich in ein paar Jahren schauen kann, wann was war. Der Sohn von MJ hat seinen Job verloren. Ein Vater von fünf Kindern, von denen das kleinste erst ein paar Monate alt ist, ist entlassen worden. Er war seit fast zwanzig Jahren bei einer religiösen Einrichtung tätig. Wow, ne?
Und wovon ich Euch gar nicht erst berichten werde: ein Freund meines Gatten, der in einem Ministerium arbeitet, war zu Besuch. Er brachte uns auf den neuesten Stand, welche Verwandten von wem auf welchen hohen Stellen arbeiten. Das ist völlig legal, deshalb ist es auch kein Skandal. Es ist aber sehr deprimierend, es zu hören. Unvergessen der Satz von A., deren Sohn ebenfalls in einem Ministerium arbeitet: "Mein Sohn ist noch einmal befördert worden. Er arbeitet jetzt auf einer Ebene, auf der es Verwandte von Ministern gibt." Da muss er schon ziemlich weit oben sein, ne?
Übrigens (ich erinnere rasch): Seit Mariano Rajoy an der Macht ist, ist die Staatsverschuldung Spaniens um 300 Milliarden gestiegen.