Sonntag, 1. Juli 2018

Ein alt' Gebirg vergeht...

... ein neues türmt sich auf, pflegte mein Urgroßvater Nikolaus zu sagen, der in diesem Gotteshaus betete, ebenso wie mein Urgroßvater Alois, der dort auch jahrzehntelang Messner war, ebenso wie mein Ururgroßvater, der dort auch Messner gewesen war. Mein Vater wurde dort getauft, ebenso wie sein Vater und seine Enkel. Die Kirche Maria Geburt in Aschaffenburg, Schweinheim, ist also für meine Familie definitiv ein ziemlich alt‘ Gebirg.
Sooo. Und vor nunmehr fast dreißig Jahren (in erdgeschichtlichen Zeiträumen nicht einmal ein Wimpernschlag) kam ein neuer Pfarrer, dessen Verhältnis zu meiner Familie mit einer kleinen Schäbigkeit begann, die er mit „Ich wusste ja nicht, wer Sie sind“ entschuldigte. Okay, ne? Entschuldigt. Man kann ja nicht jeden gleich behandeln, wo kämen wir denn hin? Also.
Worauf ich hinaus will: Man hört echt abenteuerliche Geschichten über das, was da abgeht in dieser Pfarrei. Der Priester hat wohl auch überregional ein bisschen Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, indem er am Weißen Sonntag bei der Erstkommunionfeier ein Kreuz benutzte, an dem ein mit dem Kopf nach unten deutendes Bild des bayerischen Ministerpräsidenten Söder hing. Darüber haben sich auch Leute aufgeregt, die nicht zu den üblichen Querulanten gehören, sondern ausgewiesene Stützen der Gesellschaft sind. Irgendwie war auch noch ein Bretzel im Spiel, denn in der Presse wurde er mit „Brezn-Pfarrer“ tituliert.
Man kann sich auf youtube einen liturgischen Tanz anschauen, der anlässlich des Pfingstfestes in Maria Geburt aufgeführt wurde, einschließlich Konfettiregen wie bei der Champions League, nur weniger stark. Das entsprechende Bildmaterial erinnert an eine Seniorenresidenz für Derwisch*Innen, der Gesang dazu ist schön.
Man hört also so allerhand aberwitziges Zeug über diese kleine Gemeinschaft und deshalb beschloss ich, einmal hinzugehen und mir persönlich anzugucken, was da los ist. Ihr kennt mich: Wenn ich solche Expeditionen unternehme, versuche ich vorurteilsfrei auf das Objekt meiner Studien zuzugehen, in diesem Falle einen Sonntagsgottesdienst, der eigentlich wenig Überraschungen bereithalten sollte. Sonntag, zehn Uhr: Die im gotischen Stil Ende des 19. Jhs. erbaute Kirche ist schon seit Jahren von ihrem ursprünglichen religiösen Ballast befreit und erstrahlt in reinem Weiß. Es war recht voll, die Gottesdienstbesucher saßen in einem Stuhlkreis. Gleich bei meinem Eintritt bemerkte ich auf der mir gegenüber liegenden Seite einen Clown. Er sah aus wie ein gewerbsmäßiger Spaßmacher von der Sorte, die man manchmal in Fußgängerzonen trifft und der man einen Euro hinwirft in der Hoffnung, dass sie sich damit Stimmungsaufheller kauft. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters. Er trug einen kleinen runden Hut, sein Gesicht war im Stile besagter Clowns geschminkt. Um seinen Hals und auf seinem T-Shirt lag ein großer Kranz aus Blättern und Holunderblüten, der ein bisschen an Amazonas-Indianer erinnerte. Es folgten schwarze Shorts, in den Bündchen seiner Socken steckten Blumensträußchen. Ich wusste nicht, was er dort wollte. War er ein Geisteskranker, der in Maria Geburt löblicherweise geduldet wird? War das eine Performance?  Ich war zwei Minuten zu spät gekommen, vielleicht hatte der Pfarrer zu Beginn der Messe etwas zu seiner Präsenz gesagt.
Wie dem auch sei. In der Mitte der Kirche stand ein kleiner quadratischer Tisch. Eine Frau, die wie mehrere andere auch ein Gewand wie ein Priester trug, legte ein orangefarbenes Tischtuch auf. Die Lesung wurde verlesen, darauf folgte überraschenderweise gleich die Predigt. Der Pfarrer stand irgendwo im Kreis, neben einem sehr bescheidenen Kreuz. Es ging ums Spenden und die Etymologie des Wortes „privat“. Die Leute sollen mehr geben oder teilen oder irgend sowas. Was machen die eigentlich mit den ganzen Kirchensteuern? Irgendwann muss es doch genug sein. Naja gut, ist egal. Er füllte so zehn, fünfzehn Minuten mit diesem Thema. Dann wurde das Evangelium vorgelesen. Zwischendurch wurde immer mal wieder gesungen. Obwohl ich sehr viele Kirchenlieder kenne, kannte ich keines davon.
Dann kam der Bajass ins Spiel. Ich fragte den Herrn neben mir, ob Clowns regelmäßiger Bestandteil des Schweinheimer Sonntagsgottesdienstes seien. Er antwortete mir nein, es gäbe irgendwas zu feiern. Der Bespaßer stand auf… er erinnerte ein bisschen an Karl Valentin. Er lief innerhalb des Stuhlkreises herum und rief oder brüllte oder sang – obwohl es gerade mal ein paar Stunden her ist, weiß ich es nicht mehr – „Herr, schenke mir Kraft“ oder „Herr, erbarme dich“ oder irgend sowas. Er lief herum mit seinem lächerlichen Hut, seinem erbarmungslos beschmierten Gesicht, seinem Blätterkranz, seinen Blumensträußchen an den Socken. Abartig. Schließlich fiel er vor dem Kreuz auf die Knie… mein Herz begann zu rasen. Welche Blasphemie hatte er geplant?
Man liest und hört manchmal von Christenverfolgungen und wie Gläubige gezwungen werden, religiöse Abbilder zu bespucken oder auf Kreuze zu treten. Ich denke immer, ich würde gar nicht zögern, ich würde alles tun, um meine Haut zu retten, aber wenn man so etwas dann direkt vor sich sieht, diese unselige Kreatur vor dem Kreuz knien sieht, ist es doch etwas anderes. Man möchte kotzen und kann es nicht. Er stand auf… halblaut entfuhr es mir: „Der pinkelt jetzt gegen das Kreuz.“ Das war so der Eindruck. Zwei Gottesdienstbesucher antworteten „nein, nein, das tut er nicht“ und ich gehe davon aus, dass er es tatsächlich nicht getan hat. Wissen tue ich es nicht, ich packte nämlich meine Handtasche und verließ fluchtartig das… Gotteshaus, hätte ich fast geschrieben, und das ist es ja auch.
Ich war wirklich wohlwollend, zu Anfang. Ich dachte, es ist schön, dass es ein Angebot gibt für Menschen, die unter dem Dach der katholischen Kirche eine etwas andere Messe wollen. Also, jetzt nicht gleich satanisch, aber doch „anders“. Ich wollte bis zum Schluss bleiben. Ich hätte das Ding in der Paella-Pfanne probieren wollen, das wie ein überdimensionierter Lebkuchen aussah, aber sicher eine Hostie war. Ich hätte Euch berichten wollen, was noch alles geschah im weiteren Verlauf der Eucharistie, es ging nicht. Ich musste fluchtartig den Raum verlassen. Ich war innerlich so aufgewühlt, dass ich viel zu schnell nach Hause fuhr. Hoffentlich bin ich nicht in eine Radarfalle geraten.
Irgendwann werde ich noch einmal hingehen und mir den Rest anschauen, also, die Wandlung und so. Ich weiß jetzt, worauf ich mich einlasse. Was wie eine Verhöhnung des Kreuzes aussieht, ist bestimmt gut gemeint. Ich habe das seelische Rüstzeug dabeizubleiben, von Anfang bis Ende. Man muss sich eben langsam gewöhnen.
Was mich überrascht, ist, dass es die katholische Kirche gar nicht zu interessieren scheint, was ihre Franchise-Nehmer so treiben. Ist sie so bankrott, dass es ihr einfach egal ist?
Ein alt‘ Gebirg ist vergangen.