Als
ich so dreizehn, vierzehn war, also vor fast vierzig Jahren, als es noch keine
Handys gab und auch kein Whats App, ging ich mehrmals die Woche abends zum
Schwimmtraining. Im Sommer fuhr ich mit dem Fahrrad, im Winter ging ich zu Fuß
und mein Vater holte mich mit dem Auto ab. Es kam aber vor, dass er aus beruflichen
Gründen verhindert war und nicht rechtzeitig kommen konnte. Die anderen Mädchen
wurden dann abgeholt und ich stand allein auf dem dunklen, verlassenen Hof und
wartete noch ein Weilchen, bis ich mich zu Fuß auf den Heimweg machte. Ich war
ein ängstliches Mädchen. Auf dem ersten, schwach beleuchteten Wegstück waren
links Kleingärten, rechts ein Bahndamm. Dann kamen Büsche, dann ging es über
eine kleine Eisenbahnbrücke, über eine vierspurige Straße, dann links ein
weitläufiger Park, rechts zuerst eine Seniorenresidenz, dann eine Kirche. Hier
war abends niemand unterwegs. Dann ging es ein Stückchen durch ein Wohngebiet,
in dem auch kein Mensch auf der Straße war. Auf der anderen Seite des
Wohngebiets kam links ein großes Einkaufszentrum, das um diese Uhrzeit längst
geschlossen hatte, auf der rechten Seite ein ehemaliges Fabrikgelände. Ja, wie
aus einem Horrorbuch. Dann ging es in eine Straße mit vier-, fünfstöckigen
Häusern, dazwischen dunkle Hofeinfahrten. Dann über eine lange
Eisenbahnbrücke...
Ich war
ein ängstliches Mädchen und aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, lag bei
uns zuhause in der Küche in einem Schrank ein italienisches Springmesser von
der Sorte, wo die Klinge vorn rausspringt. Ich begann, dieses Messer nach
Einbruch der Dunkelheit mitzuführen. Es gab mir Sicherheit. Ich trug es im
Ärmel meiner Winterjacke, direkt über dem Handgelenk. Ich übte die Verwendung
wie einen Zaubertrick: Ich ließ das Messer in meine Handfläche gleiten,
betätigte mit Daumen und Zeigefinger den Mechanismus, die Klinge sprang heraus.
Es funktionierte perfekt. Es war sehr einfach. Meine Mutter wusste davon und
meinte, das Messer wäre gefährlich, ich würde einem potenziellen Angreifer eine
Waffe liefern, aber ich hatte mir das schon überlegt. Er würde das Messer gar
nicht zu Gesicht bekommen. Ich probierte an einem Sauerbraten, den meine Mutter
eingelegt hatte. Gar nicht weit ausholen, kurz und mit aller Kraft, in einer
Bewegung von unten nach oben. Im Erstfall unterhalb der Rippen.
Dann
geschah es eines Tages tatsächlich. Jemand folgte mir. In der Straße mit den
hohen Häusern und den dunklen Hofeinfahrten bemerkte ich es. Ich lief
abwechselnd schneller und langsamer. Jemand folgte mir. Um nach Hause zu
gelangen, musste ich nach rechts abbiegen, über die spärlich beleuchtete,
völlig verlassene, lange Bahnbrücke mit den schmalen Bürgersteigen gehen, auf
der ich nicht nach den Seiten ausweichen konnte. Die andere Möglichkeit war
geradeaus weiterzugehen, an Bahnanlagen entlang, die in völliger Dunkelheit
lagen, dann wären nach einer Weile Bahngebäude und der Bahnhof gekommen. Ich
überlegte mir, zum Bahnhof zu gehen und dort von einem Münzfernsprecher aus
meine Mama anzurufen. Aber da musste ich an den ausgedehnten Bahnanlagen
vorbei. Wenn ich nach rechts auf die Brücke abbog, würde mich mein Verfolger
eine Weile nicht sehen, bis er selbst die Ecke erreicht hatte und in dieser
Zeit könnte ich rennen und hätte einen gewissen Vorsprung und vielleicht würde
ich schneller und ausdauernder rennen können oder es wäre ihm einfach zu blöd,
mir hinterher zu laufen. Ich ging also normal auf die Straßenecke zu, bog ab und
rannte um mein Leben. Ich hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als mein Vater
mit dem Auto kam. Ich überquerte die Straße und stieg ein.
Zwei
Jahre später wurde ein Mädchen aus unserer Straße umgebracht, das im Winter am
frühen Abend auf dem Heimweg von einem Kurs war. Dieses Verbrechen wurde
niemals aufgeklärt. Jemand hat im Internet ein virtuelles Kerzchen für sie
aufgestellt, das ich schon ein paar Mal angezündet habe. Es brennt dann zwei
Wochen lang.
Ja,
diese Geschichte ist wahr.
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