Dienstag, 17. November 2015

Unattended

Mein erstes Theaterstückchen! Ich gebe ihm den Titel „Unattended“.
Ort der Handlung: Flughafen
Personen: Familie Müller und die übrigen Menschen, die in der Schlange am Check-in-Schalter warten
Zeit: tja, wenn man’s wüsste

Ein Tag mit hohem Reiseaufkommen. Familie Müller steht am Check-in-Schalter in einer riesigen Schlange. Auf einem Gepäckwagen vor ihrem Gepäckwagen befinden sich hundert Kilo Sprengstoff, verteilt auf mehrere Koffer. Zuoberst liegen ein Hello-Kitty-Koffer und ein Teddybär.
Herr Müller: Sag mal, Gaby, wo ist denn die Frau, der diese Koffer gehören?
Frau Müller: Die war grad noch da.
(Das Ehepaar Müller schaut sich um, die Frau ist nicht zu sehen.)
Frau Müller: Kinder, habt ihr gesehen, wo die Frau hin ist, der diese Koffer gehören?
Torben und Laura: Nööö. (Sie schauen sich um.)
Herr und Frau Müller schauen sich an.
Stille. Eine Minute vergeht.
Dann fragt Herr Müller einen jungen Mann, der vor dem verlassenen Gepäckwagen steht: Haben Sie gesehen, wo die Frau hin ist, der dieser Gepäckwagen gehört?
Der junge Mann (schaut von seinem I-Phone auf): Ich habe gar nichts gesehen... ich habe gar nicht gesehen, dass da eine Frau war.
Frau Müller: Eine Frau und ein Kind, ein kleines Mädchen.
Der Typ mit dem I-Phone schüttelt den Kopf, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
Eine Frau weiter vorn in der Schlange: Die sind sicher zur Toilette gegangen.
Frau Müller: Ja, sicher, aber sie hätten ihr Gepäck nicht hier stehen lassen sollen, ohne jemandem Bescheid zu sagen.
Die Schlange bewegt sich, Herr Müller schiebt den herrenlosen Gepäckwagen und seinen eigenen nach vorn.
Durchsage: Achtung bitte, Sicherheitshinweis: Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt! Attention please, security advice: Do not leave your baggage unattended!  
Laura Müller: Hatte die Frau ein Kopftuch auf?
Frau Müller: Laura, das hätte ich nicht von dir erwartet. Was spielt denn das für eine Rolle?
Herr Müller: Hatte sie ein Kopftuch auf?
Frau Müller: Nein, ich glaube nicht.
Die Müllers schauen sich nach der Frau um.
Herr Müller: Da kommt sie ja!
Eine Frau mit einem Kind an der Hand kommt aus Richtung der Toiletten und läuft im Hintergrund vorbei.
Torben Müller: Das war sie nicht.
Frau Müller: Das Mädchen sah ganz anders aus. Es hatte eine lila Strumpfhose an und dunkelrote Stiefel und ein dunkelrotes Kleid. Und es hatte braunes Haar und ganz süße Zöpfchen...
Die Schlange bewegt sich, Herr Müller schiebt beide Gepäckwagen weiter.
Laura Müller (laut): Weiss irgendjemand, wo die Frau ist, der dieser Gepäckwagen gehört?
Jemand (aus der benachbarten Schlange, die zu einem anderen Check-in-Schalter führt): Das war keine Frau, das war ein junger Mann, ein Geschäftsmann. Sicher ist er zur Toilette gegangen.
Eine Frau (mit starkem russischem Akzent, aufgeregt): Ja, aber muss sagen... muss sagen wenn weg geht! Damit wir uns keine Sorgen machen... und war eine Frau, ich habe gesehen, war kein Mann, war Frau.
Der aus der anderen Schlange: Vielleicht hatte er oder sie Durchfall und hatte es eilig.
Der Herr hinter den Müllers: What’s going on?
Laura Müller: This Baggage is unattended.
Der Herr hinter den Müllers: There was a woman with a little girl.
Alle starren auf den Gepäckberg, auf den kleinen Hello-Kitty-Koffer und den Teddybär, der obendrauf liegt.
Begleiterin des Herrn hinter den Müllers: What is happening?
Die beiden sprechen leise in einer skandinavischen Sprache miteinander.
Begleiterin des Herrn hinter den Müllers: She must have gone to the bathroom.
Eine junge Frau, die die ganze Zeit zugehört hat, murmelt: Ich geh’. Better safe than sorry. Sie greift nach ihrem Koffer und entfernt sich rasch.
Eine ältere Dame: Wenn wir vor jedem verlassenen Gepäckstück Angst haben, haben die Terroristen schon gewonnen. Wir müssen unsere Freiheit bewahren! Ich habe keine Angst.
Herr Müller: Torben, guck doch mal, ob du irgendwo einen Sicherheitsbeamten findest und sag dem, dass hier Koffer stehen und die Besitzerin weggelaufen ist.
Torben verschwindet.
Herr Müller schiebt die Gepäckwagen weiter.
Ein dicker, fröhlicher Mann: Also, ich fliege viel, ich habe schon allerhand erlebt. Hier in Frankfurt, zwischen dem Terminal und dem Parkhaus, ein großer und ein kleiner Koffer, mutterseelenallein, da hat sich keiner drum gekümmert. In New York, JFK, da habe ich persönlich ein verlassenes Gepäckstück gemeldet, hat sich auch keiner drum gekümmert... und ich hatte erwartet, die würden das ganze Terminal evakuieren. Die wissen halt, dass die Leute dann doch irgendwann wieder kommen. Ist ja auch noch nie was passiert. Und ich fliege viel.
Torben kommt zurück: Dort vorne war ein Security, dem habe ich gesagt, dass hier ein verlassener Gepäckwagen steht.
Frau Müller: Und was hat er dir geantwortet?
Torben: Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit.
Herr Müller: Sonst nichts? Hat er irgendwas gemacht... unternommen?
Torben: Ich hab’ nichts gesehen.
Herr Müller: Gaby, geh’ du mal.
Frau Müller geht, Herr Müller schiebt die Gepäckwagen weiter.
Laura Müller: Ich warte mal dort hinten im Buchladen. Ich seh’ ja, wenn ihr vorn am Schalter seid.
Torben: Mann, hey, die hat Schiss. Was für eine hysterische Kuh. Da liegt doch ein Hello-Kitty-Koffer oben drauf!
Jemand: Ich rufe mal 112 an, da soll sich jemand drum kümmern. Der Wachmann kommt ja anscheinend nicht.
Der Vielflieger: Hatte die Frau ein Kopftuch auf?
Frau Müller: Nein. Was soll denn das immer mit dem Kopftuch? Diese Menschen sollen sich bei uns wohlfühlen!
Die Russin: Wie lange ist sie denn schon weg?
Der Typ mit dem I-Phone (ohne aufzuschauen): Nicht lange, keine fünf Minuten. Die sind doch alle hysterisch hier. Sie ist bestimmt mit dem Kind auf der Toilette. 
Ein fürchterlicher Knall, der Vorhang fällt.

INTERPRETATIONSHILFE: Ich habe meinen Sohn, der viel reist, darauf hingewiesen, dass er sich von unbeaufsichtigten Gepäckstücken sofort entfernen soll. Das Sicherheitspersonal kann man dann aus sicherer Entfernung benachrichtigen. Andernfalls sagen sie einem womöglich, dass man neben dem verlassenen Gepäckstück warten soll, weil man ein wichtiger Zeuge ist. Mach' das auf keinen Fall! Deshalb habe ich dieses Stückchen geschrieben, als Bitte, von verlassenem Gepäck wegzubleiben. 

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