Ach, und noch etwas zum Thema sprachliche
und kulturelle Missverständnisse: An der Zookasse wurde mein Gatte gefragt, ob
er "a cuotas" bezahlen wollte. Für spanische Ohren bedeutet das
"auf Raten". Da der Eintrittspreis für uns drei nur 20 Euro betrug,
musste es wohl etwas anderes bedeuten und mein Gatte sagte prophylaktisch
einfach mal ja. Erst als die Kassiererin fragte, in wie vielen Raten er denn
bezahlen wollte, kam er auf den Gedanken, dass es tatsächlich dasselbe
bedeutete wie in Spanien. Ist das ein Zeichen dafür, wie arm viele Leute hier
sind?
Aber weiter zu unserem dritten Tag in
Cali: Ich beginne mit dem Abend, zum weiteren Verlauf des Tages gibt es nämlich
sehr viel zu sagen und mein Gatte möchte bald frühstücken gehen. Wir kamen also
von unserem Ausflug zurück, ruhten kurz im Hotel aus und gingen dann in ein
Lokal mit einer lustig beleuchteten Dachterrasse, wo wir etwas tranken und
Empanadas, das sind gefüllte Teigtaschen, Tapiokapasteten und mit Käse
gefüllte, frittierte Bananen assen. Wie die frittierten Bananen heissen, weiss
ich leider nicht, sie sind aber grausamerweise sehr lecker. (Sie heissen “aborrajados”.)
Anschliessend stiegen wir auf den Hügel
San Antonio. Es wird hier ziemlich früh dunkel. Ich muss mal darauf achten, um
wie viel Uhr es tatsächlich ist, ich glaube um sechs oder so. Der ganze Hügel
San Antonio war beleuchtet, hunderte von Leuten sassen auf den Treppenstufen,
auf Mäuerchen und Wiesen und genossen die kühle Abendluft. Oben waren natürlich
wieder viele Verkaufsstände und mein Sohn kaufte ein paar Ohrringe, die wir
seiner Schwiegeroma auf unserer nächsten Reisestation, nämlich in Pereira (der
Stadt ohne Sehenswürdigkeiten), mitbringen sollen. Es gab so allerhand
Belustigungen: Musik spielte, ein Geschichtenerzähler war da, dem ein kleines
Amphitheater zur Verfügung stand, das voll besetzt war. Und auf was die Leute
hier alles kommen: An einem kleinen Abhang stand ein Mann, der Plastikkisten
vermietete, auf die sich Kinder setzen und dann wie auf Schlitten den
betonierten Weg hinunterfahren konnten, also, auf den umgedrehten Kisten. Das
funktionierte sehr gut. Die Leute hier verstehen zu leben, das muss man ihnen
lassen. Wir spazierten also eine Weile auf diesem Hügel und durch die Gegend,
dann begaben wir uns zurück ins Hotel. Was war aber vorher geschehen?
Mein Sohn hatte einen Ausflug zu zwei
Haciendas gebucht. Ich erzähle erst von der zweiten, nähern wir uns dem Thema
langsam. Wir fuhren also aus Cali heraus zur ersten Hacienda, sie heisst
"El Paraíso", mehr sage ich erstmal gar nicht. Man fuhr auf einer
einfachen Autobahn, dann auf Alleen mit riesigen Bäumen auf beiden Seiten, die
ein Tunnel bildeten. Dieses Land ist so fruchtbar, hier fällt einem Tropfen
Cappuccino auf den Boden, am nächsten Tag steht da ein ausgewachsener
Kaffeestrauch.
Wir fuhren also am Zuckerrohr vorbei...
Die Felder sehen so ähnlich aus wie Maisfelder, aber das Zeug ist viel höher.
Wenn wir wieder zuhause sind, lade ich die entsprechenden Bilder hoch (hoffe
ich mal). Dann kamen wir zur Finca selbst. Der Garten bzw. Park war traumhaft
schön angelegt. Die Bäume, die Blumen! Irgendwelche blühende Pflanzen, die bei
uns zwanzig Zentimeter hoch werden und im Winter eingehen, werden hier
meterhoch und sind einfach spektakulär schön. Von den Bäumen hängt so ein Zeug
herunter, von den Bäumen, auf denen sowieso schon Orchideen wachsen - auf den
Ästen und dicken Baumstämmen wachsen wilde Orchideen! - und dann hängt dieses
Zeug herunter, das macht, dass die Landschaft aussieht wie im Traum, wie durch
den schönsten Filter. Hoffentlich habe ich ein paar Bilder, die der Sache
halbwegs gerecht werden. Ja, und in diesem Park waren so Häuser, die wieder den
alten Hütten nachgebildet waren, mit Dächern aus Kokos- oder
Zuckerrohrblättern, das eine hatte sogar ein Dach aus Kaktus. Und in diesen
Häusern waren Geräte, mit denen man früher den Saft aus Zuckerrohr gepresst
hatte. Stellt Euch wäschemangelartige Sachen aus altem Holz vor. Uns bzw. mir
steckte aber noch der Besuch der vorherigen Finca/Hacienda in den Knochen.
Ich hole aus: Wie Ihr wisst, wurde ich
aufgefordert, das Buch "María" von Jorge Isaacs zu lesen, das auf
dieser Hacienda spielt. Ich kam nur bis Seite 100. Wir hatten für den Tag einen
ganz lieben Fahrer/Führer, der natürlich auch gleich von diesem Buch anfing.
Ich hatte noch nie davon gehört, bevor es mein Sohn uns schenkte. In Kolumbien
kennt es jeder, es ist Pflichtlektüre in der Schule. Es ist ein Tearjerker, wie
die Amerikaner sagen, der absolute Tränendrüsendrücker. Es ist DER romantische
lateinamerikanische Roman des 19. Jhs. Ich habe geschaut, ob er auf Amazon.de
auf Deutsch verfügbar ist, er liegt aber anscheinend nur in einer schlechten
Übersetzung vor.
Der Autor ist auf der älteren Version des
50.000 Peso-Scheins (etwa 15 Euro) abgebildet, den neueren ziert Gabriel García
Márquez. So, also, um was geht es? Unser Fahrer wunderte sich, dass jemand, der
den Ausflug macht, das Buch noch nicht gelesen hatte und wollte uns das Ende
nicht verraten. Da wir aber auf der Hacienda sowieso alles erfahren würden,
baten wir ihn, uns zu erzählen, wie die Geschichte endet, was er dann auch tat.
Ich fragte: "Ist das Buch autobiographisch?" und er antwortete:
"Ja." Mein Sohn, der mir über die Schulter schaut, hat gerade gesagt:
"Da kommt's jetzt!" und es stimmt, es kommt jetzt. Also, worum geht
es? Der Vater des Autors war der Besitzer der Finca, wo der Roman spielt und
die den Namen "El Paraíso" nicht zu Unrecht trägt. Das Haus im
Kolonialstil steht am Fusse der Berge, der Anden, umrahmt von Rosen,
wunderschönen Bäumen, üppigen Blumen, und öffnet sich hin auf das
kilometerbreite Tal des Caucas. Die Hälfte des Tales gehörte dem Vater des
Autors. So, also. Das Kind Jorge, der Autor, der sich im Buch Efraím nennt,
wuchs also in dieser paradiesischen Umgebung, im Kreise einer liebenden
Familie, unterstützt von vielen Sklaven, auf. Zur Familie gehörte neben den
kleinen Geschwistern eine verwaiste Cousine in seinem Alter, María, deren Namen
das Buch trägt und die er besonders liebte. Aus diesem irdischen Paradies wurde
er schon als kleiner Junge (10 vielleicht? Müsste ich nachschauen und dazu ist
jetzt keine Zeit) vertrieben und nach Bogotá zur Schule geschickt. Ihr müsst
bedenken, dass es hier zur damaligen Zeit weder Weg noch Steg gab und solche
Reisen zu Pferde durchgeführt wurden und viele Tage dauerten. Nach sechs Jahren
kam er beschult aus Bogotá zurück in seine Heimat. Dort erwartete ihn die
liebliche, liebevolle María. Jeden Tag stellte sie ihm einen Strauss Blumen ins
Zimmer. Sie suchte seine Nähe und er die ihre. (Wie gesagt, ich habe das Buch
noch nicht fertig gelesen.) Die Eltern bemerkten bald, was sich zwischen den
beiden abspielte. Sie wollten die Verbindung verhindern, da Marías Mutter jung
an Epilepsie gestorben war und man fürchtete, dass das Mädchen diese Krankheit
geerbt hatte. Also beschloss der Vater, den jungen Efraím nach London zu
schicken, wo er Medizin studieren sollte. Efraím und María verbrachten ein paar
gemeinsame Monate auf der Hacienda. María stellte ihm jeden Tag frische Rosen
ins Zimmer, die beiden Liebenden sassen gemeinsam auf einem Felsbrocken im
Garten und genossen das Zusammensein. Eines Tages bekam María einen
epileptischen Anfall, der die Befürchtungen bezüglich dessen, was ihr
bevorstand, nämlich ein früher Tod wie der ihrer Mutter, bestätigte. Efraím
machte sich unter Lebensgefahr auf die Suche nach dem Arzt. Auf dem Weg zu
selbigem durchquerte er unter anderem einen reissenden Strom… etc. You get the
idea.
María schien genesen, aber der schwarze
Vogel des Todes umkreiste sie (wörtlich). Efraím brach zu seiner Reise nach
London auf. Um von Cali nach London zu kommen, brauchte man damals drei Monate.
María schrieb ihm und legte ihren Briefen eine Blume bei. Sie schloss immer mit
den Worten: “Solange hier im Garten Blumen blühen, solange bin ich mir sicher,
dass Du mich noch liebst” oder so was in der Art. Ihre Krankheit verschlimmerte
sich und man schickte nach Efraím. Mittlerweile hatte sein Vater sein Vermögen versoffen
und verspielt. Die Rückreise dauerte natürlich auch wieder drei Monate und als
Efraím zuhause ankam, war María seit ein paar Tagen tot. Vor ihrem Ableben
hatte sie eine ihrer Cousinen, Efraíms Schwester, gebeten, ihre Zöpfe
abzuschneiden und diese ihrem Geliebten zu übergeben.
An dieser Stelle heulte die gesamte
Gruppe, die an der Führung durch die Finca teilnahm (nur ganz leicht
übertrieben). Ja, diese Geschichte ist total autobiographisch, man sieht den
herrlichen Garten mit den Rosen, die María jeden Tag für ihren Geliebten
pflückte, den Felsen, wo die beiden gesessen haben, das Zimmer, in dem
Efraím/Jorge geschlafen hat, das Nähzimmer, wo die Mutter sass, das
Arbeitszimmer des Vaters, wo er sein Vermögen verspielte und versoff. Marías
Zöpfe, die im Haus aufbewahrt worden waren, hatte ein abscheulicher Tourist
gestohlen. So, soweit so gut, bzw. so tragisch. Autobiographisch, ne? Der arme
Jorge, ne?
Zurück im Hotel habe ich dann mal gegoogelt,
bzw. ein bisschen weiter geforscht. Im Hause der Familie Isaacs gab es keine verwaiste
Cousine. Jorge hat nie in England studiert. Wenn es María nicht gab, kann es ja
auch die Zöpfe nicht gegeben haben. Man hat in Cali, in Kolumbien, eine ganze Industrie
um die Wahrheit dieser Geschichte aufgebaut. Das ist echt verwirrend. Das Buch
ist sehr berührend. Jorge Isaacs hatte ein spannendes, unruhiges Leben, aber
María hat es eben nicht gegeben. Die Südamerikaner mit ihrem Sinn für Dramen
wollen die Geschichte eben glauben. Wenn man den Geldschein in der Mitte
faltet, kann man den Autor in Form des Wasserzeichens seine Kreation küssen lassen.
Bild folgt, hoffentlich.
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