Mein erstes Theaterstückchen! Ich gebe
ihm den Titel „Unattended“.
Ort der Handlung: Flughafen
Personen: Familie Müller und die
übrigen Menschen, die in der Schlange am Check-in-Schalter warten
Zeit: tja, wenn man’s wüsste
Ein Tag mit hohem Reiseaufkommen. Familie Müller steht am Check-in-Schalter
in einer riesigen Schlange. Auf einem Gepäckwagen vor ihrem Gepäckwagen
befinden sich hundert Kilo Sprengstoff, verteilt auf mehrere Koffer. Zuoberst
liegen ein Hello-Kitty-Koffer und ein Teddybär.
Herr Müller: Sag mal, Gaby, wo ist
denn die Frau, der diese Koffer gehören?
Frau Müller: Die war grad noch da.
(Das Ehepaar Müller schaut sich um, die Frau ist nicht zu sehen.)
Frau Müller: Kinder, habt ihr gesehen,
wo die Frau hin ist, der diese Koffer gehören?
Torben und Laura: Nööö. (Sie schauen sich um.)
Herr und Frau Müller schauen sich an.
Stille. Eine Minute vergeht.
Dann fragt Herr Müller einen jungen Mann, der vor dem verlassenen
Gepäckwagen steht: Haben Sie gesehen, wo die Frau hin ist, der dieser
Gepäckwagen gehört?
Der junge Mann (schaut von seinem I-Phone auf): Ich habe gar nichts gesehen... ich
habe gar nicht gesehen, dass da eine Frau war.
Frau Müller: Eine Frau und ein Kind,
ein kleines Mädchen.
Der Typ mit dem I-Phone schüttelt den Kopf, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
Eine Frau weiter vorn in der Schlange:
Die sind sicher zur Toilette gegangen.
Frau Müller: Ja, sicher, aber sie
hätten ihr Gepäck nicht hier stehen lassen sollen, ohne jemandem Bescheid zu
sagen.
Die Schlange bewegt sich, Herr Müller schiebt den herrenlosen Gepäckwagen
und seinen eigenen nach vorn.
Durchsage: Achtung bitte,
Sicherheitshinweis: Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt! Attention please, security advice: Do not
leave your baggage unattended!
Laura Müller: Hatte die Frau ein
Kopftuch auf?
Frau Müller: Laura, das hätte ich
nicht von dir erwartet. Was spielt denn das für eine Rolle?
Herr Müller: Hatte sie ein Kopftuch auf?
Frau Müller: Nein, ich glaube nicht.
Die Müllers schauen sich nach der Frau um.
Herr Müller: Da kommt sie ja!
Eine Frau mit einem Kind an der Hand kommt aus Richtung der Toiletten und
läuft im Hintergrund vorbei.
Torben Müller: Das war sie nicht.
Frau Müller: Das Mädchen sah ganz
anders aus. Es hatte eine lila Strumpfhose an und dunkelrote Stiefel und ein
dunkelrotes Kleid. Und es hatte braunes Haar und ganz süße Zöpfchen...
Die Schlange bewegt sich, Herr Müller schiebt beide Gepäckwagen weiter.
Laura Müller (laut): Weiss irgendjemand, wo die Frau ist, der dieser Gepäckwagen
gehört?
Jemand (aus der benachbarten Schlange, die zu einem anderen Check-in-Schalter
führt): Das war keine Frau, das war ein junger Mann, ein Geschäftsmann. Sicher
ist er zur Toilette gegangen.
Eine Frau (mit starkem russischem Akzent, aufgeregt): Ja, aber muss sagen...
muss sagen wenn weg geht! Damit wir uns keine Sorgen machen... und war eine
Frau, ich habe gesehen, war kein Mann, war Frau.
Der aus der anderen Schlange:
Vielleicht hatte er oder sie Durchfall und hatte es eilig.
Der Herr hinter den Müllers: What’s
going on?
Laura Müller: This Baggage is unattended.
Der Herr hinter den Müllers: There was a woman with a little girl.
Alle starren auf den Gepäckberg, auf den kleinen Hello-Kitty-Koffer und den
Teddybär, der obendrauf liegt.
Begleiterin des Herrn hinter den
Müllers: What is happening?
Die beiden sprechen leise in einer skandinavischen Sprache miteinander.
Begleiterin des Herrn hinter den
Müllers: She must have gone to the bathroom.
Eine junge Frau, die die ganze Zeit
zugehört hat, murmelt: Ich geh’. Better safe than sorry. Sie greift nach ihrem Koffer und entfernt sich rasch.
Eine ältere Dame: Wenn wir vor jedem
verlassenen Gepäckstück Angst haben, haben die Terroristen schon gewonnen. Wir
müssen unsere Freiheit bewahren! Ich habe keine Angst.
Herr Müller: Torben, guck doch mal, ob
du irgendwo einen Sicherheitsbeamten findest und sag dem, dass hier Koffer
stehen und die Besitzerin weggelaufen ist.
Torben verschwindet.
Herr Müller schiebt die Gepäckwagen weiter.
Ein dicker, fröhlicher Mann: Also, ich
fliege viel, ich habe schon allerhand erlebt. Hier in Frankfurt, zwischen dem
Terminal und dem Parkhaus, ein großer und ein kleiner Koffer,
mutterseelenallein, da hat sich keiner drum gekümmert. In New York, JFK, da
habe ich persönlich ein verlassenes Gepäckstück gemeldet, hat sich auch keiner
drum gekümmert... und ich hatte erwartet, die würden das ganze Terminal
evakuieren. Die wissen halt, dass die Leute dann doch irgendwann wieder kommen.
Ist ja auch noch nie was passiert. Und ich fliege viel.
Torben kommt zurück: Dort vorne war
ein Security, dem habe ich gesagt, dass hier ein verlassener Gepäckwagen steht.
Frau Müller: Und was hat er dir
geantwortet?
Torben: Vielen Dank für deine
Aufmerksamkeit.
Herr Müller: Sonst nichts? Hat er
irgendwas gemacht... unternommen?
Torben: Ich hab’ nichts gesehen.
Herr Müller: Gaby, geh’ du mal.
Frau Müller geht, Herr Müller schiebt die Gepäckwagen weiter.
Laura Müller: Ich warte mal dort
hinten im Buchladen. Ich seh’ ja, wenn ihr vorn am Schalter seid.
Torben: Mann, hey, die hat Schiss. Was
für eine hysterische Kuh. Da liegt doch ein Hello-Kitty-Koffer oben drauf!
Jemand: Ich rufe mal 112 an, da soll
sich jemand drum kümmern. Der Wachmann kommt ja anscheinend nicht.
Der Vielflieger: Hatte die Frau ein
Kopftuch auf?
Frau Müller: Nein. Was soll denn das
immer mit dem Kopftuch? Diese Menschen sollen sich bei uns wohlfühlen!
Die Russin: Wie lange ist sie denn
schon weg?
Der Typ mit dem I-Phone (ohne aufzuschauen): Nicht lange, keine
fünf Minuten. Die sind doch alle hysterisch hier. Sie ist bestimmt mit dem Kind
auf der Toilette.
Ein fürchterlicher Knall, der Vorhang fällt.
INTERPRETATIONSHILFE: Ich habe meinen Sohn, der viel reist, darauf hingewiesen, dass er sich von unbeaufsichtigten Gepäckstücken sofort entfernen soll. Das Sicherheitspersonal kann man dann aus sicherer Entfernung benachrichtigen. Andernfalls sagen sie einem womöglich, dass man neben dem verlassenen Gepäckstück warten soll, weil man ein wichtiger Zeuge ist. Mach' das auf keinen Fall! Deshalb habe ich dieses Stückchen geschrieben, als Bitte, von verlassenem Gepäck wegzubleiben.