Mittwoch, 2. April 2014

Aus meinem Leben

Als ich so dreizehn, vierzehn war, also vor fast vierzig Jahren, als es noch keine Handys gab und auch kein Whats App, ging ich mehrmals die Woche abends zum Schwimmtraining. Im Sommer fuhr ich mit dem Fahrrad, im Winter ging ich zu Fuß und mein Vater holte mich mit dem Auto ab. Es kam aber vor, dass er aus beruflichen Gründen verhindert war und nicht rechtzeitig kommen konnte. Die anderen Mädchen wurden dann abgeholt und ich stand allein auf dem dunklen, verlassenen Hof und wartete noch ein Weilchen, bis ich mich zu Fuß auf den Heimweg machte. Ich war ein ängstliches Mädchen. Auf dem ersten, schwach beleuchteten Wegstück waren links Kleingärten, rechts ein Bahndamm. Dann kamen Büsche, dann ging es über eine kleine Eisenbahnbrücke, über eine vierspurige Straße, dann links ein weitläufiger Park, rechts zuerst eine Seniorenresidenz, dann eine Kirche. Hier war abends niemand unterwegs. Dann ging es ein Stückchen durch ein Wohngebiet, in dem auch kein Mensch auf der Straße war. Auf der anderen Seite des Wohngebiets kam links ein großes Einkaufszentrum, das um diese Uhrzeit längst geschlossen hatte, auf der rechten Seite ein ehemaliges Fabrikgelände. Ja, wie aus einem Horrorbuch. Dann ging es in eine Straße mit vier-, fünfstöckigen Häusern, dazwischen dunkle Hofeinfahrten. Dann über eine lange Eisenbahnbrücke...
Ich war ein ängstliches Mädchen und aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, lag bei uns zuhause in der Küche in einem Schrank ein italienisches Springmesser von der Sorte, wo die Klinge vorn rausspringt. Ich begann, dieses Messer nach Einbruch der Dunkelheit mitzuführen. Es gab mir Sicherheit. Ich trug es im Ärmel meiner Winterjacke, direkt über dem Handgelenk. Ich übte die Verwendung wie einen Zaubertrick: Ich ließ das Messer in meine Handfläche gleiten, betätigte mit Daumen und Zeigefinger den Mechanismus, die Klinge sprang heraus. Es funktionierte perfekt. Es war sehr einfach. Meine Mutter wusste davon und meinte, das Messer wäre gefährlich, ich würde einem potenziellen Angreifer eine Waffe liefern, aber ich hatte mir das schon überlegt. Er würde das Messer gar nicht zu Gesicht bekommen. Ich probierte an einem Sauerbraten, den meine Mutter eingelegt hatte. Gar nicht weit ausholen, kurz und mit aller Kraft, in einer Bewegung von unten nach oben. Im Erstfall unterhalb der Rippen.
Dann geschah es eines Tages tatsächlich. Jemand folgte mir. In der Straße mit den hohen Häusern und den dunklen Hofeinfahrten bemerkte ich es. Ich lief abwechselnd schneller und langsamer. Jemand folgte mir. Um nach Hause zu gelangen, musste ich nach rechts abbiegen, über die spärlich beleuchtete, völlig verlassene, lange Bahnbrücke mit den schmalen Bürgersteigen gehen, auf der ich nicht nach den Seiten ausweichen konnte. Die andere Möglichkeit war geradeaus weiterzugehen, an Bahnanlagen entlang, die in völliger Dunkelheit lagen, dann wären nach einer Weile Bahngebäude und der Bahnhof gekommen. Ich überlegte mir, zum Bahnhof zu gehen und dort von einem Münzfernsprecher aus meine Mama anzurufen. Aber da musste ich an den ausgedehnten Bahnanlagen vorbei. Wenn ich nach rechts auf die Brücke abbog, würde mich mein Verfolger eine Weile nicht sehen, bis er selbst die Ecke erreicht hatte und in dieser Zeit könnte ich rennen und hätte einen gewissen Vorsprung und vielleicht würde ich schneller und ausdauernder rennen können oder es wäre ihm einfach zu blöd, mir hinterher zu laufen. Ich ging also normal auf die Straßenecke zu, bog ab und rannte um mein Leben. Ich hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als mein Vater mit dem Auto kam. Ich überquerte die Straße und stieg ein.
Zwei Jahre später wurde ein Mädchen aus unserer Straße umgebracht, das im Winter am frühen Abend auf dem Heimweg von einem Kurs war. Dieses Verbrechen wurde niemals aufgeklärt. Jemand hat im Internet ein virtuelles Kerzchen für sie aufgestellt, das ich schon ein paar Mal angezündet habe. Es brennt dann zwei Wochen lang.
Ja, diese Geschichte ist wahr.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen