Sonntag, 1. Dezember 2013

1. Dezember

Ich berichte. Die spanischen Lebensmittelbanken (Tafeln) haben am Freitag und Samstag in den Supermärkten des Landes eine riesige Aktion durchgezogen (La Gran Recogida). Warum über ein Ereignis, das Millionen von Menschen (alle, die am Freitag und Samstag einkaufen waren) mit eigenen Augen gesehen haben, in der Presse nicht berichtet wird, ist mir schleierhaft. Nur im Radio habe ich etwas gehört: Ein Honigproduzent hat den Bürgermeister des Dorfes in Honig aufgewogen und den Honig gespendet (84 Kilo). Darüber wurde berichtet.
Die Aktion der Lebensmittelbanken verlief wie folgt: Die Kunden, die den Supermarkt betraten, erhielten eine Liste mit Nahrungsmitteln, die zwecks Weitergabe an Bedürftige benötigt werden, und wurden darum gebeten, zusätzlich zu ihren eigenen Einkäufen für die Bedürftigen einzukaufen. Mein Sohn hatte sich als Freiwilliger gemeldet und verteilte solche Einkaufslisten. Kunden, die Interesse zeigten, bekamen zusätzlich eine Plastiktüte mit dem Logo der Lebensmittelbank (von der umweltfreundlichen Sorte, die sich schon auf dem Weg zum Parkplatz auflöst). Hinter der Kasse konnten sie ihre Spende abgeben. 
Als mein Sohn zum Mittagessen nach Hause kam, erzählte er, dass die Aktion ein überwältigender Erfolg sei und dass die Helfer ziemlich erschöpft seien. Ich fragte ihn, ob ich irgendwie behilflich sein könnte. Lange Rede, kurzer Sinn: eine Viertelstunde später saß ich hinter dem Tisch, wo die Spenden in Empfang genommen wurden. Leute, es war eine überwältigende Erfahrung. Die Bereitschaft der Menschen, Notleidenden zu helfen ... mir fehlen die Worte, um dieses Ausmaß an Solidarität zu beschreiben. Kleine Kinder, die ein Kilo Linsen brachten "für die, die weniger haben, als ich", sooo süß und rührend. "Heute bringe ich noch was, bald werde ich selber Nahrungsmittel holen müssen," sagte ein Mann. Wie vielfältig die Spender waren. Ein Ehepaar kam mit einem ganzen Wagen voll Sachen und nahm ein paar Kleinigkeiten heraus. Wir dachen natürlich, die Kleinigkeiten seien die Spenden, aber sie ließen den ganzen Wagen zurück! Einschließlich Euro für die Rückgabe. Ein vornehmer Herr, der aussah wie ein Landadeliger und vielleicht auch einer war, sowas gibt es hier nämlich, näherte sich dem Tisch: "Was soll ich kaufen? Ich kaufe, was ihr mir sagt." Nach einer Weile kam er zurück und brachte unter vielem anderem sogar Folgemilch mit, er hatte sich im Gang mit der Säuglingsnahrung von einer Mutter beraten lassen. Säuglingsprodukte wurden hauptsächlich von jungen Familien gebracht, denn das ist eine Wissenschaft, die man als Laie nicht durchschaut. Die Mengen, die die Kunden bei uns abgaben, waren wirklich unglaublich. Viele arbeiteten die Einkaufsliste ab und brachten dann die Sachen in der Banco de Alimentos-Tüte. Die vielen jungen Männer, die mitmachten! "Nehmt ihr auch Geld?" fragte einer, "Ich habe keine Ahnung und keine Zeit", legte 20 Euro hin und verschwand. Einmal näherte sich ein ganzer Familienclan und legte eine bescheidene Spende vor uns. "Wir haben zusammengelegt. Meine Mutter hat auch was gegeben", sagte die eine der Frauen. Und ich betrachtete den Inhalt ihres Einkaufswagens und der war auch so bescheiden ... Gourmet-Leberwurst gab jemand ab. Ein ganz kleiner Junge wurde von seinen Eltern vorgeschickt und sollte eine Packung Reis abgeben. Er wehrte sich laut schreiend und presste die Packung an sich. "Du musst mit den Kindern teilen, die Hunger haben!" sagte seine Mutter. "Nohohooo", schrie er. Es war unmöglich, wahrscheinlich wäre die Packung zerrissen, wenn man versucht hätte, sie ihm zu entwinden. "Wir kommen wieder", sagte die Mutter. Nach einer ziemlich langen Weile kam der kleine Herr zurück und stellte ganz stolz die Packung vor uns hin. Wir bedankten uns ausführlich im Namen der hungernden Kinder und er marschierte wieder zu seinen Eltern. Süüüß!
Ich saß von 16 bis 22 Uhr (solange hat der Supermarkt geöffnet) am Tisch und führte über die abgegebenen Nahrungsmittel buch. An zwei Tagen waren in diesem einen Supermarkt über fünf Tonnen Nahrungsmittel abgegeben worden. Über 5000 Kilo. Das ist eine riesige Menge. Und die Aktion fand anscheinend in praktisch allen Supermärkten in Spanien statt. Die vielen, vielen Freiwilligen, die mitmachten. Wo wir waren, waren viele Leute aus der Kirchengemeinde, anderswo, habe ich gehört, waren es Feuerwehrleute. Ein Studentenwohnheim hatte 150 Studenten "in die Schlacht" geschickt. Wahnsinn. Es war ein überwältigendes Erlebnis. Der Supermarkt hat übrigens dieselbe Menge drauf gelegt. 
So, wer nur Positives lesen will, der hört hier auf zu lesen.
Der ältere Herr, der die Freiwilligen in dem Supermarkt, wo mein Sohn und ich waren, koordinierte, sagte einmal zwischendurch: "Wenn die Leute nicht soviel spenden würden, hätte es schon längst einen Aufstand gegeben. Die Leute ohne jedes Einkommen zu lassen, das geht einfach nicht." Dienen also die Lebensmittelbanken dazu, die unhaltbaren Zustände in Spanien zu zementieren?
In Spanien gibt es mehr als 600.000 Haushalte ohne Einkommen. Na, die bekommen doch sicher Hartz IV oder das spanische Äquivalent, werdet Ihr jetzt denken, aber da liegt Ihr falsch. Ohne Einkommen bedeutet ohne Einkommen. Keine Mietbeihilfe, keine Arbeitslosenunterstützung, nichts. Sie leben von der Rente der Großeltern oder von einem bisschen Schwarzgeld, das die Mutter durch Putzen verdient, wobei angesichts des Überangebots an Putzwilligen die Bezahlung dafür auch nicht gerade durch die Decke geht und die Regierung angeordnet hat, dass in Privathaushalten tätige Putzkräfte angemeldet werden müssen, auch wenn sie nur zwei Stunden in der Woche kommen.
So. Die spanische Demokratie ist zu einer Kleptokratie verkommen und es wäre gut, wenn sich daran etwas ändern würde. Wo soll diese Veränderung aber herkommen? Auf politischem Weg ist dies nicht möglich, denn sobald eine neue Partei aufkäme, würden die alten, die abwechselnd am Futtertrog hocken, schreien: "Populisten! Rechts- bzw. Linksextreme! Populisten, die wollen unsere Demokratie zerstören." Damit die alten Parteien dies schreien können, benötigen sie eine willige Presse, nicht wahr? Und wie soll die Presse denn nicht willig sein, wenn z.B. die Grupo Prisa, der die größte spanische Zeitung El País und der meistgehörte Radiosender Cadena Ser gehören, ebenso wie Canal +, der Verlag Santillana usw., usw., wenn diese Gruppe also 3 Milliarden Schulden bei den Banken hat, die auch noch ihre größten Anzeigenkunden sind??? Wie soll denn eine Presse frei sein, wenn der Meinungsmacher Nummer eins den Banken praktisch gehört? Und die Banken Interesse daran haben, dass die korrupte "Elite", die sich in ihrer Hand befindet, an der Macht bleibt? Und angesichts dieser Zustände sollen es die Lebensmittelbanken/Tafeln sein, die die Machtverhältnisse zementieren? 
Übrigens wird in Spanien gerade ein neues Gesetz zum Schutz der Sicherheit der Bürger verabschiedet (ja, so heißt es in deutscher Übersetzung), mit dem verschiedene Arten von Demonstrationen und des Protests mit hohen Strafen belegt werden. Nein, ich halte Euch nicht zum besten. Letzteres ist traurig, aber wahr. 

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