Sonntag, 22. Mai 2011

Die Proteste in Spanien

Ich war gestern bei der Veranstaltung in unserer Studentenstadt mit ihren 170.000 Einwohnern. Es waren etwa 100 Leute da. Fast alle jung. Ich war vor drei Tagen schon einmal da, da waren es ein paar mehr und auch mehr Ältere. Die meisten der jungen Menschen saßen da und lernten eifrig. Ein paar Mädchen waren Studentinnen der Krankenpflege (ja, das ist in Spanien ein Studium und wer sehr fleißig ist und Glück hat, wird irgendwann mal verbeamtete Krankenschwester). Die Jugend in der Ausbildung befindet sich nämlich mitten in der Prüfungszeit. Da gestern der Tag vor den Kommunal- und Regionalwahlen, der „Tag des Nachdenkens“, war, an dem keine Propaganda gemacht werden darf, war es ziemlich ruhig. Auf einem Plakat stand: „Silencio! Wir denken nach!“ Lustig.
Wogegen wird protestiert? Ich habe in einer deutschen Online-Zeitung gelesen, es würde gegen irgendwelche Reformen protestiert. Das stimmt nicht.
- Protestiert wird unter anderem gegen die Perspektivlosigkeit bei einer Jugendarbeitslosigkeit von über 45 %. Die jungen Menschen werden als „generación perdida“, als „verlorene Generation“ bezeichnet. Das ist inakzeptabel.
- Gegen Korruption
Unter den Kandidaten, die für die heutigen Kommunal- und Regionalwahlen aufgestellt wurden, befinden sich, wie ich gehört habe, 110 Menschen, die offiziell der Korruption beschuldigt werden. Ihre Chancen gewählt zu werden, verringern sich dadurch nicht, weil die Wähler davon ausgehen, dass alle gleich korrupt sind, nur die einen wurden eben erwischt, die anderen noch nicht.
- Gegen den Mangel an Demokratie
Man hat das Gefühl, die Ratingagenturen und Wall Street sowie die spanischen Banken würden anordnen, wie Spanien zu regieren sei (Rentenalter, Rechte der Arbeitnehmer usw.) und Angela Merkel gibt auch noch ihren Senf dazu (weniger Feiertage für die Spanier, effizienter arbeiten etc.)
- Und gegen weitere diverse Kleinigkeiten wie die Tatsache, dass über eine Million Wohnungen leerstehen und nicht verkauft werden können, während die jungen Menschen bei ihren Eltern und in Wohngemeinschaften wohnen müssen, weil diese Wohnungen zu teuer für sie sind und weil sie aufgrund der Lage am Arbeitsmarkt keine Familien gründen können.
Es wird also gegen das ganze System protestiert. Auf manchen Plakaten ist zu lesen: „Ich bin nicht gegen das System, das System ist gegen mich.“
Es waren gestern etwa 100 Leute da. Ich habe die Menschen auf einem Viertel des Platzes gezählt und das waren um die 25. Auf dem Platz nebenan war ein Junggesellenabschied im Gange, da war deutlich mehr los. Wie viele Leute hier gewesen wären, wenn Belén Esteban sich die Ehre gegeben hätte, mag ich mir gar nicht ausmalen. Wer ist Belén Esteban, werdet Ihr Euch jetzt in Deutschland fragen. Belén Esteban ist „la princesa del pueblo“, „die Prinzessin des Volkes“. Fragt nicht.
45 % Jugendarbeitslosigkeit, dazu diejenigen, die unbezahlte Praktika machen, die in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen stecken, weil es sonst nichts gibt – mein Sohn erzählte von einem Freund, der sechs Tage die Woche je zehn Stunden in einer Gaststätte in der Küche arbeitete und dafür 500 Euro bekam. Ich sagte: „Na, das sind mehr als 8 Euro die Stunde, das ist doch gar nicht so schlecht.“ Mein Sohn antwortete mir: „Es sind doch 500 Euro im Monat!“
Dazu kommen diejenigen, die Fächer „sin salida“, ohne Zukunftsperspektive, studieren. Ich wollte jetzt ein paar dieser Fächer aufführen, aber es sind eigentlich fast alle. Die Leute studieren um des Studierens willen, denn eine gute Bildung ist heutzutage und hierzulande Garantie für gar nichts.
In Salamanca gilt es als Erfolg, nach einem abgeschlossenen Studium der spanischen Philologie oder der Rechtswissenschaften die Beamteneinstellungsprüfung für Gefängniswärter zu bestehen und dann als ebensolcher in eine hunderte von Kilometern entfernte Stadt geschickt zu werden.
Ja, Ihr meint jetzt, ich würde gegen Spanien schimpfen. Nee. Ich erzähle nur von kleinen Missständen / Mistständen. Solange Spanien die Füße unter den europäischen Tisch streckt, muss eben gemacht werden, was Mutti Merkel und der IWF sagen. Ich finde es aber erschütternd, dass gestern nur so wenige Menschen da waren. Ich glaube, die Bewegung 15-M wird sich bald wieder in Wohlgefallen auflösen (meine Zukunftsprognosen sind aber erstaunlicherweise (denn manchmal müsste ich ja zufällig rechthaben) fast immer falsch, es besteht also Hoffnung). Im Radio (Cadena Ser) hörte ich ein Interview mit einem Sprecher der Bewegung, das ganz gut lief, bis der junge Mann auf dem Puerta de Sol-Platz sagte: „Wir werden hier bleiben, bis wir unser Ziel erreicht haben.“ und die Reporterin fragte: „Was ist denn euer Ziel?“ woraufhin er ins Stottern geriet. Man wird sehen. Es bleibt spannend.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen