Montag, 20. August 2018

Der dritte Tag in Cali

Ach, und noch etwas zum Thema sprachliche und kulturelle Missverständnisse: An der Zookasse wurde mein Gatte gefragt, ob er "a cuotas" bezahlen wollte. Für spanische Ohren bedeutet das "auf Raten". Da der Eintrittspreis für uns drei nur 20 Euro betrug, musste es wohl etwas anderes bedeuten und mein Gatte sagte prophylaktisch einfach mal ja. Erst als die Kassiererin fragte, in wie vielen Raten er denn bezahlen wollte, kam er auf den Gedanken, dass es tatsächlich dasselbe bedeutete wie in Spanien. Ist das ein Zeichen dafür, wie arm viele Leute hier sind?
Aber weiter zu unserem dritten Tag in Cali: Ich beginne mit dem Abend, zum weiteren Verlauf des Tages gibt es nämlich sehr viel zu sagen und mein Gatte möchte bald frühstücken gehen. Wir kamen also von unserem Ausflug zurück, ruhten kurz im Hotel aus und gingen dann in ein Lokal mit einer lustig beleuchteten Dachterrasse, wo wir etwas tranken und Empanadas, das sind gefüllte Teigtaschen, Tapiokapasteten und mit Käse gefüllte, frittierte Bananen assen. Wie die frittierten Bananen heissen, weiss ich leider nicht, sie sind aber grausamerweise sehr lecker. (Sie heissen “aborrajados”.)
Anschliessend stiegen wir auf den Hügel San Antonio. Es wird hier ziemlich früh dunkel. Ich muss mal darauf achten, um wie viel Uhr es tatsächlich ist, ich glaube um sechs oder so. Der ganze Hügel San Antonio war beleuchtet, hunderte von Leuten sassen auf den Treppenstufen, auf Mäuerchen und Wiesen und genossen die kühle Abendluft. Oben waren natürlich wieder viele Verkaufsstände und mein Sohn kaufte ein paar Ohrringe, die wir seiner Schwiegeroma auf unserer nächsten Reisestation, nämlich in Pereira (der Stadt ohne Sehenswürdigkeiten), mitbringen sollen. Es gab so allerhand Belustigungen: Musik spielte, ein Geschichtenerzähler war da, dem ein kleines Amphitheater zur Verfügung stand, das voll besetzt war. Und auf was die Leute hier alles kommen: An einem kleinen Abhang stand ein Mann, der Plastikkisten vermietete, auf die sich Kinder setzen und dann wie auf Schlitten den betonierten Weg hinunterfahren konnten, also, auf den umgedrehten Kisten. Das funktionierte sehr gut. Die Leute hier verstehen zu leben, das muss man ihnen lassen. Wir spazierten also eine Weile auf diesem Hügel und durch die Gegend, dann begaben wir uns zurück ins Hotel. Was war aber vorher geschehen?
Mein Sohn hatte einen Ausflug zu zwei Haciendas gebucht. Ich erzähle erst von der zweiten, nähern wir uns dem Thema langsam. Wir fuhren also aus Cali heraus zur ersten Hacienda, sie heisst "El Paraíso", mehr sage ich erstmal gar nicht. Man fuhr auf einer einfachen Autobahn, dann auf Alleen mit riesigen Bäumen auf beiden Seiten, die ein Tunnel bildeten. Dieses Land ist so fruchtbar, hier fällt einem Tropfen Cappuccino auf den Boden, am nächsten Tag steht da ein ausgewachsener Kaffeestrauch.
Wir fuhren also am Zuckerrohr vorbei... Die Felder sehen so ähnlich aus wie Maisfelder, aber das Zeug ist viel höher. Wenn wir wieder zuhause sind, lade ich die entsprechenden Bilder hoch (hoffe ich mal). Dann kamen wir zur Finca selbst. Der Garten bzw. Park war traumhaft schön angelegt. Die Bäume, die Blumen! Irgendwelche blühende Pflanzen, die bei uns zwanzig Zentimeter  hoch werden und im Winter eingehen, werden hier meterhoch und sind einfach spektakulär schön. Von den Bäumen hängt so ein Zeug herunter, von den Bäumen, auf denen sowieso schon Orchideen wachsen - auf den Ästen und dicken Baumstämmen wachsen wilde Orchideen! - und dann hängt dieses Zeug herunter, das macht, dass die Landschaft aussieht wie im Traum, wie durch den schönsten Filter. Hoffentlich habe ich ein paar Bilder, die der Sache halbwegs gerecht werden. Ja, und in diesem Park waren so Häuser, die wieder den alten Hütten nachgebildet waren, mit Dächern aus Kokos- oder Zuckerrohrblättern, das eine hatte sogar ein Dach aus Kaktus. Und in diesen Häusern waren Geräte, mit denen man früher den Saft aus Zuckerrohr gepresst hatte. Stellt Euch wäschemangelartige Sachen aus altem Holz vor. Uns bzw. mir steckte aber noch der Besuch der vorherigen Finca/Hacienda in den Knochen.
Ich hole aus: Wie Ihr wisst, wurde ich aufgefordert, das Buch "María" von Jorge Isaacs zu lesen, das auf dieser Hacienda spielt. Ich kam nur bis Seite 100. Wir hatten für den Tag einen ganz lieben Fahrer/Führer, der natürlich auch gleich von diesem Buch anfing. Ich hatte noch nie davon gehört, bevor es mein Sohn uns schenkte. In Kolumbien kennt es jeder, es ist Pflichtlektüre in der Schule. Es ist ein Tearjerker, wie die Amerikaner sagen, der absolute Tränendrüsendrücker. Es ist DER romantische lateinamerikanische Roman des 19. Jhs. Ich habe geschaut, ob er auf Amazon.de auf Deutsch verfügbar ist, er liegt aber anscheinend nur in einer schlechten Übersetzung vor.
Der Autor ist auf der älteren Version des 50.000 Peso-Scheins (etwa 15 Euro) abgebildet, den neueren ziert Gabriel García Márquez. So, also, um was geht es? Unser Fahrer wunderte sich, dass jemand, der den Ausflug macht, das Buch noch nicht gelesen hatte und wollte uns das Ende nicht verraten. Da wir aber auf der Hacienda sowieso alles erfahren würden, baten wir ihn, uns zu erzählen, wie die Geschichte endet, was er dann auch tat. Ich fragte: "Ist das Buch autobiographisch?" und er antwortete: "Ja." Mein Sohn, der mir über die Schulter schaut, hat gerade gesagt: "Da kommt's jetzt!" und es stimmt, es kommt jetzt. Also, worum geht es? Der Vater des Autors war der Besitzer der Finca, wo der Roman spielt und die den Namen "El Paraíso" nicht zu Unrecht trägt. Das Haus im Kolonialstil steht am Fusse der Berge, der Anden, umrahmt von Rosen, wunderschönen Bäumen, üppigen Blumen, und öffnet sich hin auf das kilometerbreite Tal des Caucas. Die Hälfte des Tales gehörte dem Vater des Autors. So, also. Das Kind Jorge, der Autor, der sich im Buch Efraím nennt, wuchs also in dieser paradiesischen Umgebung, im Kreise einer liebenden Familie, unterstützt von vielen Sklaven, auf. Zur Familie gehörte neben den kleinen Geschwistern eine verwaiste Cousine in seinem Alter, María, deren Namen das Buch trägt und die er besonders liebte. Aus diesem irdischen Paradies wurde er schon als kleiner Junge (10 vielleicht? Müsste ich nachschauen und dazu ist jetzt keine Zeit) vertrieben und nach Bogotá zur Schule geschickt. Ihr müsst bedenken, dass es hier zur damaligen Zeit weder Weg noch Steg gab und solche Reisen zu Pferde durchgeführt wurden und viele Tage dauerten. Nach sechs Jahren kam er beschult aus Bogotá zurück in seine Heimat. Dort erwartete ihn die liebliche, liebevolle María. Jeden Tag stellte sie ihm einen Strauss Blumen ins Zimmer. Sie suchte seine Nähe und er die ihre. (Wie gesagt, ich habe das Buch noch nicht fertig gelesen.) Die Eltern bemerkten bald, was sich zwischen den beiden abspielte. Sie wollten die Verbindung verhindern, da Marías Mutter jung an Epilepsie gestorben war und man fürchtete, dass das Mädchen diese Krankheit geerbt hatte. Also beschloss der Vater, den jungen Efraím nach London zu schicken, wo er Medizin studieren sollte. Efraím und María verbrachten ein paar gemeinsame Monate auf der Hacienda. María stellte ihm jeden Tag frische Rosen ins Zimmer, die beiden Liebenden sassen gemeinsam auf einem Felsbrocken im Garten und genossen das Zusammensein. Eines Tages bekam María einen epileptischen Anfall, der die Befürchtungen bezüglich dessen, was ihr bevorstand, nämlich ein früher Tod wie der ihrer Mutter, bestätigte. Efraím machte sich unter Lebensgefahr auf die Suche nach dem Arzt. Auf dem Weg zu selbigem durchquerte er unter anderem einen reissenden Strom… etc. You get the idea.
María schien genesen, aber der schwarze Vogel des Todes umkreiste sie (wörtlich). Efraím brach zu seiner Reise nach London auf. Um von Cali nach London zu kommen, brauchte man damals drei Monate. María schrieb ihm und legte ihren Briefen eine Blume bei. Sie schloss immer mit den Worten: “Solange hier im Garten Blumen blühen, solange bin ich mir sicher, dass Du mich noch liebst” oder so was in der Art. Ihre Krankheit verschlimmerte sich und man schickte nach Efraím. Mittlerweile hatte sein Vater sein Vermögen versoffen und verspielt. Die Rückreise dauerte natürlich auch wieder drei Monate und als Efraím zuhause ankam, war María seit ein paar Tagen tot. Vor ihrem Ableben hatte sie eine ihrer Cousinen, Efraíms Schwester, gebeten, ihre Zöpfe abzuschneiden und diese ihrem Geliebten zu übergeben.
An dieser Stelle heulte die gesamte Gruppe, die an der Führung durch die Finca teilnahm (nur ganz leicht übertrieben). Ja, diese Geschichte ist total autobiographisch, man sieht den herrlichen Garten mit den Rosen, die María jeden Tag für ihren Geliebten pflückte, den Felsen, wo die beiden gesessen haben, das Zimmer, in dem Efraím/Jorge geschlafen hat, das Nähzimmer, wo die Mutter sass, das Arbeitszimmer des Vaters, wo er sein Vermögen verspielte und versoff. Marías Zöpfe, die im Haus aufbewahrt worden waren, hatte ein abscheulicher Tourist gestohlen. So, soweit so gut, bzw. so tragisch. Autobiographisch, ne? Der arme Jorge, ne?
Zurück im Hotel habe ich dann mal gegoogelt, bzw. ein bisschen weiter geforscht. Im Hause der Familie Isaacs gab es keine verwaiste Cousine. Jorge hat nie in England studiert. Wenn es María nicht gab, kann es ja auch die Zöpfe nicht gegeben haben. Man hat in Cali, in Kolumbien, eine ganze Industrie um die Wahrheit dieser Geschichte aufgebaut. Das ist echt verwirrend. Das Buch ist sehr berührend. Jorge Isaacs hatte ein spannendes, unruhiges Leben, aber María hat es eben nicht gegeben. Die Südamerikaner mit ihrem Sinn für Dramen wollen die Geschichte eben glauben. Wenn man den Geldschein in der Mitte faltet, kann man den Autor in Form des Wasserzeichens seine Kreation küssen lassen. Bild folgt, hoffentlich.

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